Alles muss jetzt sofort digitalisiert werden und online verfügbar sein, damit der Alltag weiter funktionieren kann. Das ist der etwas leicht panisch-hektische Tenor, den man in den Sozialen Medien seit Wochen beobachten, spüren, verfolgen und mitgestalten kann. Home-Office, Home-Schooling und was noch nicht etabliert ist: Home-Nursing. Und das alles gleichzeitig.
Nun ist es aber so, dass es sich nicht nur um ein rein räumlich verändertes Arbeiten geht, sondern wir von einem gänzlich anderen Setting sprechen und andere Rahmenbedingungen vorliegen.
Ich skizziere ein Szenario von einem Elternpaar, wo beide erwerbstätig sind, im Home-Office arbeiten, und das jüngere Kinder hat.
Angenommen wir würden im Home-Office arbeiten, z.B. online lehren, online Fortbildungen anbieten, online beraten, online koordinieren, hätten ein funktional eingerichtetes Arbeitszimmer mit zwei Arbeitsplätzen, dazu zählt Hardware, Software, ergonomisches Mobiliar und Infrastruktur (W-LAN), Betreuung im Haus für die Kinder, die auch weitere hauswirtschaftlich anfallenden Aufgaben erfüllt bis das in Teilzeit beschäftigte Elternteil von der Arbeit zurück ist.
Dann würden wir uns ausschließlich strukturelle Gedanken machen, wie man am besten digital arbeitet, welche Tools sich für Kollaborationen anbieten etc.
Den „mental load“ bzw. die Tatsache, dass der Mensch evt. Zeit und Raum zum Arbeiten hat, aber den Kopf zum Arbeiten nicht findet, da die Situation keine alltägliche und somit sozialpsychologisch betrachtet den Menschen, seine materielle wie immaterielle Existenz verändernde Macht besitzt, das ist hier im Beitrag und im allgemeinen Diskurs auch wenig berücksichtigt – aber de facto da, existent.
Nun möchte an dieser Stelle die andere Seite der Medaille eines Arbeiters, die aber ähnlich aussehen kann, beleuchten. Gehen wir von der Persona Studierende aus; mit Kind, mit Nebenjob – heutzutage keine Rarität solche Biographien.
Nun soll ein Online-Lehrformat für diese Studierenden erstellt werden.
Da sich aktuell viele Lehrende bemühen ein „perfektes“ Modell zu gestalten, möchte ich auf eine Vorgehensweise hinweisen, die an dieser Stelle besonders Sinn macht: agiles Arbeiten. Statt ein fertiges Lehrprodukt in diesem Zusammenhang ein Seminarangebot zu generieren, sollten zunächst die Endnutzer also die Studierenden nach ihrer Alltagsbewältigungsstrategie und ihrer Lebenswelt befragt werden, um aus den Ergebnissen abzuleiten, was die Studierenden aktuell leisten können! Deshalb sollte die Befragung an erster Stelle und das Starten der Lehre – zunächst mit einem Prototyp – an zweiter Stelle stehen. Diesen Prozess als zirkulär und immer wieder justierbar zu verstehen, entlastet Dozierende mit perfektionistischer Haltung, ein vollkommenes Produkt liefern zu müssen oder aber auch denjenigen, der eine gewisse Ohnmacht aufgrund von fehlender digitaler Fachkenntnis verspürt. Diese Vorgehensweise wird sich als sinnvoller erweisen als mit einem bis zum letzten Detail durchdeklinierten Konzept von Online-Lehre online zu gehen statt steht vor einer Online-Leere zu stehen.
Ferner können nicht nur passiv befragt, sondern aktiv in den Prozess integriert werden: die Studierenden als (i.d.R.) Digital Natives können bzgl. der Digitalisierung des Seminars zu Rate gezogen werden, was die formal-technische Gestaltung anbelangt (eine Form des Reverse Mentoring).
Hinzukommt, dass aktuell nicht absehbar ist, wer, wann und wo arbeitet. Gleiches gilt für die Studierenden. Diese Information ist aber gleichzeitig essenziell, wenn Online-Vorlesungen stattfinden sollen. Daher bietet es sich an, mehr asynchrones lernen zu ermöglichen und auf synchrone Lehre weitestgehend zu verzichten. Das Zeitmanagement dürfte derzeit so individuell gestaltet sein, dass die sog. Kernarbeitszeit kaum noch Beachtung finden kann.
Es gilt also auf folgende Parameter zu achten: mehr Agilität im Seminargestaltungsprozess, mehr asynchrone, weniger synchrone Formate, mehr flipped Lernsettings (als Co-Trainer den Lernprozess begleitend), weniger Lehrangebote („professoral“, asymmetrisch), mehr zeitversetzte Kollaboration unter Studierenden (Peer-Learning). In der Zusammenfassung: Shift from Teaching to Learning.
Es klingt kompliziert, aber die Krux liegt in der Komplexität, einfach zu denken und schrittweise voranzukommen – positiv denken und jeden Schritt als Fortschritt werten.
Wenn Digitalisierung nun aufgrund von Covid19 gesund in der Mitte unserer Gesellschaft ankommt und wir in diesen Krisenzeiten überall dort, wo Digital-Sein ein Mehrwert darstellt, digitalisieren, dann ist die schwere Geburt des Homo Digitalis hoffentlich überstanden und wir sprechen dann von einer neuen Ära des „Postdigitalen“ und analysieren die gesellschaftlichen, psychologischen und sozialen Folgen der Digitalisierung unter dem Nimbus der „Digitalität“.
Gastautorin: Yasemin Erdogan – Magistra Artium, Informationswissenschaften-/-Studien – Angewandte Sprachwissenschaft, Interkulturelle Kommunikation Psychologie, Politikwissenschaft…
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