Sie haben die Aufgabe, Prozesse in den einzelnen Fachbereichen aufzunehmen. Hierzu werden Ihnen Key User mit hoher Fachkompetenz als Ansprechpartner (Experten) gegeben. Anschließend gilt es, durch Befragungstechniken in kurzer Zeit Wissen anzuhäufen. Da Key User wenige zeitliche Ressourcen haben, sollte der aufgenommene Prozess so wenig wie möglich nachgefasst werden müssen. Jetzt gilt es, eine Befragungstechnik zu verwenden, mit der man in dieser Realität so effizient wie möglich arbeiten kann.

Mit Befragungen werden durch eine formalisierte Kommunikation, systematisch zuverlässige und valide Informationen über einen Sachverhalt erhoben. In einer Befragung werden die Key User aufgefordert, Informationen über die Sache zu geben. Qualitative Befragungen erheben Daten zu einem genau festgelegten Thema mit Hilfe von offenen Fragen, um mögliche Ursachen eines Problems zu erfassen.

In diesem Artikel werde ich die Methode „Experteninterview“ oder „Expertenbefragung“ so einfach wie möglich erläutern. Bevor ich zu dem Experteninterview übergehe, finden Sie in der unten aufgeführten Grafik, wie der Ablauf einer Befragung aufgebaut ist.

Experteninterview
Vorgehensweise Experteninterview

Das Experteninterview

Die Expertenbefragung (Experteninterview) ist eine Erhebungsmethode, die zu den qualitativen Methoden der Sozialforschung gehört. Diese Methode mit der sozialwissenschaftlichen Befragung wird auf das Ende des 18. Jahrhunderts datiert *2. Diese Methode kann verwendet werden, um Expertenwissen aufzunehmen oder komplexe Prozesse zu dokumentieren.

Diese Interviewmethode liefert tiefe Einblicke in den Prozess. Da es sich um Wissen aus erster Quelle handelt, sind die aufgenommenen Informationen nicht verzerrt.

Um die Qualität der Information zu gewährleisten, gilt es sich im Vorfeld gut zu informieren. Außerdem muss der Interviewer sehr gute kommunikative Skills (non-direktiver Gesprächsführung) besitzen. Hierbei wird nicht vorausgesetzt, dass der Interviewer selber Experte in diesem Thema sein muss.

Bei der Durchführung empfiehlt es sich, eine offene Interviewform zu wählen, einzusetzen und mit Hilfe eines vorher erstellten Leitfadens das Gespräch zu strukturieren. Dieser Leitfaden dient dabei dem Interviewer unter anderem auch als Gedächtnisstütze.

Der Ablauf eines Experteninterviews wird in 7 Schritten durchgeführt.

1. Bestimmen Sie das Ziel der Befragungen

Bevor Sie in einen Experteninterview gehen, sollten Sie das Zeil des Interviews abgesteckt haben.

  • Welche kritischen Prozesse gibt es in Ihrem Fachbereich?
  • Welche Abläufe können wir optimieren?
  • Welche Abläufe können wir automatisieren?

Hierzu können im Vorfeld die einzelnen Prozesse als Überschriften aufgenommen und kategorisiert werden. Hierzu kann die Methode ABC-Analyse helfen. Für die Erfassung der Prozessüberschriften kann das Tool MindManager verwendet werden.

2. Erstellen sie einen Interviewleitfaden

Der Leitfaden sollte grundsätzlich nicht über zwei DIN A4 Seiten hinausgehen. Die ersten Punkte sollten immer die Begrüßung und die Einleitung zum Thema beinhalten. Die Fragen sollten eine logische Reihenfolge haben. Ihre Fragen sollten folgenden Charakter haben:

  • Offen
  • neutral
  • einfach
  • klar
  • unmissverständlich

Offenen Fragen (Warum, Wozu, Was, Wie, Wer, Wann, Wo) sorgen für einen großen Spielraum. Die Anzahl der Fragen richtet sich der Komplexität des Themas. Der Leitfaden soll, so strukturiert wie möglich, offen gestaltet werden.

Die gebräuchlichste Form der Fragestellungen ist:

Fragen, die zum Erzählen anregen.

Um Detailfragen zu minimieren, können Erzählfragen platziert werden. Hierdurch werden Detailinformationen mitgegeben. Zu beachten gilt, dass das eigentliche Thema nie als einzige Erzählfrage formuliert werden sollte.

Beispiel:

  • Was war Ihr erster Kontakt mit dem Thema Vertragverwaltungsworkflow?
  • Erzählen Sie von Ihren bisherigen Erfahrungen zum Thema Vertragverwaltungsworkflow?
  • Können Sie sich erinnern…

Wissensfragen

Bei diesem Fragetyp geht es um reine Fakten. Dieser Fragetyp sparsam und sollte ausschließlich z.B. bei Fragebögen verwendet werden.

Beispiel:

  • Wie viele Mitarbeiter arbeiten in Ihrer Abteilung mit dem Prozess Vertragsverwaltung?
  • Wie lange dauert durchschnittlich dieser Prozess?
  • Wie oft wird dieser Prozess ausgeführt.

Meinungsfragen

Hier wird die Meinung des zu interviewenden eingeholt.

Beispiel:

  • Wie schätzen Sie die Akzeptanz von dem Vertragverwaltungsworkflow in Ihrer Abteilung?
  • Wie könnte man den Vertragverwaltungsworkflow effektiver gestalten?

Zirkulierende Fragen

Bei diesem Fragetyp wird die Frage nicht aus der eigenen Perspektive gestellt, sondern aus der Sicht einer dritten Person.

Beispiel:

  • Was glauben Sie, was Ihre Arbeitskollegen von dem Vertragverwaltungsworkflow halten?
  • Was könnte man aus der Perspektive des Abteilungsleiters am Vertragverwaltungsworkflow optimieren?

Auftrechterhaltungsfragen

Dieser Frage typ steuert den Redefluss im Interview! Hierdurch wird verhindert, dass die Erzählung nicht den Fokus verliert.
Je nach Scope können viele weitere Fragetypen verwendet werden*1.

Dieser Frage typ steuert den Redefluss im Interview! Hierdurch wird verhindert, dass die Erzählung nicht den Fokus verliert. Je nach Scope können viele weitere Fragetypen verwendet werden*1.

Beispiel:

  • Könnten Sie das etwas genauer beschreiben?
  • Könnten Sie mir die Schwierigkeit in diesem Teilprozess erklären?

3. Testen Sie den Leitfaden

Wählen Sie geeignete Key User als Piloten aus, um den Leitfaden zu testen. Hierdurch kann festgestellt werden, ob es überflüssige Fragen gibt oder, ob das benötigte Wissen nicht klar zu extrahieren ist. Zusätzlich können Sie messen, wie lange ein Interview dauert. In der Regel liegt die Interview-Dauer bei ein bis eineinhalb Stunden. Die Dauer sollte nicht mehr als zwei Stunden andauern.

4. Benennen Sie die Interviewpartner

Wie oben erwähnt werden Ihnen in der Realität, Key User vorgegeben. Schön wäre es natürlich, wenn Sie die Key User auswählen könnten. Für den Fall, dass Sie diesen Luxus, haben, sollten Sie auf folgende Besonderheiten bei der Auswahl der Key User achten:

  • Wer verfügt über die relevanten Informationen?
  • Wer ist in der Lage, präzise Auskünfte zu geben?
  • Wer ist am ehesten bereit, Wissen weiterzugeben?
  • Wer ist verfügbar?

Nehmen Sie Kontakt zu den Experten auf. Erläutern Sie vorab die Hintergründe und Ziele des Vorhabens und verschicken Sie diese zusätzlich schriftlich. So holen Sie die Experten mit ins Boot und ermöglichen Ihnen eine gute Gesprächsvorbereitung.

Wenn wir von Key Usern (Experten) reden, handelt es sich um folgenden Personenkreis.

Experten sind Personen, die ein spezifisches Praxiswissen oder Erfahrungen in einem bestimmten Thema oder zu einem bestimmten Problem besitzen. Im weitesten Sinne sind im Kontext des Projektmanagements alle Stakeholder Experten, da diese zu einem Thema oder Themenfeld Wissen und Informationen besitzen, das durch eine Befragung für andere Stakeholder zugänglich gemacht werden kann. Im engeren Sinne sind Expertenbefragungen Interviews, in denen von Experten die folgenden Informationen erfragt werden können:

Technisches Wissen:
Dies ist modifizierbares Wissen über objektive Sachverhalte.

Beispiele: Daten, Fakten, sachdienliche Informationen, Tatsachen.

Prozesswissen:
Dies ist eine Form des Erfahrungswissens über Ereignisse, in denen die befragten Experten involviert waren.

Beispiele: Einsicht in Handlungsabläufe, Interaktionen, organisationale Konstellationen.

Deutungswissen:
Darunter versteht man Erklärungen der Experten von Sachverhalten. Es gibt die subjektive Sichtweise eines Experten wieder.

Beispiele: Interpretationen, Deutungen.

5. Führen Sie die Befragungen durch

Grundsätzlich sollte das Interview persönlich durchgeführt werden. Nur in Ausnahmefällen sollten Experteninterviews telefonisch durchgeführt werden. Dies könnte durchaus der Fall sein, wenn der Key User nicht in unmittelbarer Nähe ist.

Jedes Interview muss protokolliert werden. Wichtig ist, dass die Antworten des Key Users so verlustfrei wie möglich aufgenommen werden. Hierzu dienen klassische, z.B. Notizen. Wenn der Key User explizit zustimmt, sollte man Tonaufnahmen durchführen. Hierdurch werden nachträgliche Abstimmungen mit dem Key User vermieden.

Wenn Sie keine Tonaufnahmen verwenden, schreiben Sie sparsam mit, damit Sie nicht vom Gespräch abgelenkt werden. Nach dem Gespräch können sie mit dem Key User die Mitschrift auf Lücken prüfen und vervollständigen.

Hilfreich wäre es, wenn der Key User das Prozessaufnahmeprotokoll zugeschickt bekommt, um auf Wunsch Korrekturen vorzunehmen.

6. Auswerten des Interviews

Zur Auswertung von Experteninterviews bietet sich die qualitative Inhaltsanalyse an. Hierbei wird der Text schrittweise analysiert, kategorisiert, bearbeitet und ausgewertet. Es gibt viele Analysemethoden für qualitative Auswertungen*3. Wir werden allgemeine Kernelemente benennen.

  • Notieren Sie Auffälligkeiten und Anregungen.
  • Originale Textpassagen generalisieren.
    • Hierbei ist darauf zu achten, dass die Aussagen im Text sowie die Nuancen korrekt wiedergegeben werden.
  • Erstellen Sie je nach Thema, Kategorien. Wenn Kategorien in dem Interviewleitfaden aufgenommen wurden, können diese Informationen weiterverarbeitet werden. Bei komplex aufgesetzten Kennzahlen kann man über eine Statistiksoftware genauere Analysen durchführen.

7. Feedback an die KeyUser

Die befragten Key User im Unternehmen sollten Rückmeldungen über die Auswertung bekommen. Dies sollte schriftlich passieren. Optimal ist es, wenn die Ergebnisse als Präsentation an alle Key User präsentiert werden. Hierbei ist zu beachten, dass in die EU-DSGVO Bestimmungen fallende Informationen vor der Präsentation anonymisiert werden, oder eine schriftliche Einverständniserklärung von den betroffenen Personen eingeholt wird!

Weitere Kurztipps…

  • Achten Sie in dem Experteninterview auf fachlich kompetente Kommunikation!
  • Den Interviewleitfaden als Checkliste verwenden. Flexibilität ist erlaubt!
  • Erklären Sie dem Key User, welche Informationen Sie von der Person brauchen!
  • Die Aussagen der Key User können unterschiedliche Ziele verfolgen. Durch Rückfragen und Kontrollfragen kann man dies oft erkennen.
  • Stellen Sie im Interview nicht mehrere Fragen auf einmal.
  • Hören Sie aktiv zu.

Quellenangabe:

  • *1 Gläser, Jochen und Laudel, Grit: Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse, VS Verlag, 4. Auflage 2010, Seite 130
  • *2 Noelle-Neumann, Elisabeth und Petersen, Thomas: Alle, nicht Jeder. Einführung in die Methoden der Demoskopie, dtv, München, 1996 siehe Abschnitt “Erfinder/Herkunft” bei Methode Befragung.
  • *3 u.a.: Vogt, Stefanie und Werner, Melanie: Forschen mit Leitfadeninterviews und qualitativer Inhaltsanalyse, Fachhochschule Köln, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften, 2014; Gläser, Jochen und Laudel, Grit: Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse, VS Verlag, 4. Auflage 2010.